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Tim
Haberkorn
Der Mensch in der See
Wie Jona wird der Mensch in die See geworfen. Der Mensch sinkt
wie Jona langsam in der See hinunter. Durch die helleren Wasserschichten, durch
das Halbdunkel hindurch, gleitet er hinab in die Tiefe. Im
besten Fall aufmerksam, entspannt, mit geöffneter Hand,
wie "Der sinkende Prophet".
Die
See und die Seele
Wenn
wir wie Jona, als Geworfene und Sinkende, das Wasser und die
See betrachten, zeigt sich, daß die See nicht nur ein
äußeres Ding, sondern vor allem das Bild für
unser Inneres ist. Diese stetig in Bewegung seiende See ist
das Bild für das, was sich in uns allzeit und kontinuierlich
bewegt in Empfindungen und Gedanken. Die See, ob sie nun heftig
bewegt ist oder fast, sozusagen scheinbar ruhend nur ein Minimum
an Bewegung zeigt, ob man nun die sichtbaren Bewegungen des
Oberflächenwassers betrachtet oder die verborgenen und
gewaltigen Strömungen der Tiefe erfaßt, ist das
Bild für die Seele. Das irgendwie Unsichtbare und auch
irgendwie nicht Greifbare – wir reden vom Wasser im
flüssigen Aggregatszustand –, aber doch offensichtlich
Körperhafte und Stoffliche ist ein Bild für die
Seele. Diese an etwas Unkörperliches gemahnende Körperlichkeit
zeichnet auch das seelische Leben aus: Die unsichtbare Seele
existiert nur leibhaft. Das, wenn auch schwer greifbare, doch
desto leichter berühr- und erregbare Wasser ist ein Bild
für unser nicht greifbares, aber ebenso – zumindest
an der Oberfläche – leicht erreg- und „berührbares“
Inneres. In der See lassen sich verschiedene Schichten unter-scheiden,
und doch wird sie immer als Einheit wahrgenommen. So auch
die Seele. In ihr lassen sich ebenfalls Bereiche voneinander
unterscheiden, ohne daß sie voneinander getrennt werden
könnten. Dieser Zusammenhang wird im Deutschen deutlich
ausgesprochen. Die „See“ und die „Seele“,
diese so ähnlichen Worte, sind in den germanischen Sprachen
tatsächlich sprachgeschichtlich miteinander verwandt.1
Die See ist das Bild für die Seele.
1 S. DUDEN, Bd. 7, S. 662. Freilich besteht, obwohl
es lautlich gesehen keine ernstzunehmende Alternative gibt,
in den histori-schen Sprachwissenschaften kein Konsens über
diesen zentralen anthropologischen Begriff. So bezeichnet
KLUGE, 24. Aufl., 2002, die Herkunft des Wortes „Seele“
als „unklar“. Diese Unklarheit geht auf den 1899
erschienenen Bd. 15 des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS der Gebrüder
Grimm zurück. Die in der Forschung bis dato herrschende
Etymologie von „See“ wird zwar auch dort formal
für am wahrscheinlichsten gehalten, da sie „lautlich
sehr gut stimmt“, aber aus inhaltlichen Gründen
als „künstliche, wenig einleuchtende construktion“
abgelehnt (Sp. 2851). Josef WEISWEILER weist dagegen in seinem
Aufsatz „See und Seele“ (1939) darauf hin, daß
die Germanen „in bestimmten `heiligen´ Seen Aufenthaltsorte
der Seelen sahen“, und greift die ältere Position
wieder auf (Indogermanische Forschungen, Bd. 57 (1939), S.
25-55, insb. 49). Siehe auch Hans-Peter HASENFRATZ: Die Seele.
Einführung in ein religiöses Grundphänomen.
Zürich 1986, 89f.
Angesichts des gewichtigen formalen Arguments, das recht eindeutig
ausfällt, ist der Dissens unverständlich, wenn man
nicht die zunehmende Problematisierung der Seele in den Geisteswissenschaften
berücksichtigt, die von Kants Destruktion des Seelen-begriffs
ausgeht. Zu Kants Destruktion siehe Kirsten HUXEL: Ontologie
des seelischen Lebens, Kapitel II und Einleitung. Kant kommt
freilich ohne die Sache selbst, auf die sich der Begriff „Seele“
bezieht, nicht aus, und so trägt er den Gegenstand wieder
in sein System ein – unkritisch und unter anderem Namen.
Wegweisend führt dies HUXEL in „Rekonstruktion
der Theorie des Ge-müts, die dem transzendentalen Kritikunternehmen
implizit zugrunde liegt“ aus (Ebd. S. 102-144).
Der
neuere Begriff des „Bewußtseinsstroms“ hat
zwar den älteren Begriff der „Seele“ etwas
in den Hintergrund gedrängt, knüpft aber unmittelbar
an die Wassermetaphorik der Seele an. Er gebraucht nicht nur
das Bild des Stromes und des bewegten Wassers als Bild für
unser Inneres, sondern greift insbesondere das Bild der Unterscheidbarkeit
von Schichten in der See auf. Denn die Beschreibung des Bewußtseinsstroms
in literarischer oder therapeutischer Absicht erhellt das
verborgene und oft gewaltige Strömen des Unterbewußten,
die tieferen Strömungen und Schichten, die diesem Bewußtseinsstrom
und allen sichtbaren Äußerungen menschlichen Lebens
ja zugrunde liegen, und macht sie sichtbar.
Auch Sigmund Freud verwendet das Bild der See zur Beschreibung
des Inneren.2
2
Den Zusammenhang von Freuds Psychologie und dem Meer in der
deutschen Sprache weist Georges-Arthur GOLDSCHMIDT hellsichtig
und inspirierend auf: „Wenn man Freud liest, könnte
man meinen, das Unbewußte sei so beschaffen wie das
Meer. Es scheint um eine Senkrechte organisiert zu sein, das
Unbewußte, immer tiefer in den Seelenraum abzusinken,
während ständig et-was aus der Tiefe aufsteigt...“
(Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache. Zürich
19996, S. 47).
Allerdings
ist ihm die See nicht das Bild für die Seele als Ganzes,
sondern für einen zentralen Bereich des Seelischen, nämlich
das „Unbewußte“ bzw. das „Es“:
„Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit wie
die Trockenlegung der Zuydersee.“3
3
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
In: Sigmund FREUD. Studienausgabe, Bd. 1. Frankfurt a.M. 2000,
S. 516.
Freud
macht hier freilich nicht nur den Zusammenhang von Seele und
See in der Psychoanalyse deutlich, son-dern gebraucht gleichzeitig
eine der großen zeitgenössischen Ingenieurleistungen
– die Zuydersee wurde 1932 durch einen Deich vom Meer
abgetrennt und teilweise trockengelegt – als ein doch
arg gewalttätiges Bild für den lebendigen Selbstbezug
der Seele: Als ob bei der Bewußtwerdung etwas aus der
Seele herausgenommen werden könnte, als ob das „Ich“
außerhalb der See seinen Sitz haben könnte, als
ob es überhaupt etwas Seelisches gäbe, das außerhalb
der See lebendig sein könnte.4
4
Die Verwendung dieses Bildes ist paradigmatischer Hinweis
darauf, daß Freud dem Reiz der seinerzeit sehr erfolgreichen
positi-vistischen Naturwissenschaften, die glauben, auf eine
Epistemologie verzichten zu können, immer wieder erliegt
und dazu bereit ist, die lebendige Einheit und den unverfügbaren
Selbstbezug der Seele zu opfern. Daraus resultiert auch die
Unfähigkeit der Psy-choanalyse als umfassende Kulturtheorie,
sich als hermeneutische Wissenschaft systematisch durchzubilden.
Nein,
die See ist nicht ein Teil des Inneren, sondern die See ist
unsere innere Welt. In uns ist ein großes Meer. Und
die Entdeckung und Erkundung dieses Meeres ist unser ureigener
Auftrag. In diesem Ozean benötigen wir Seelenbilder als
Navigationsgeräte und Seekarten. Oder wie Fernando Pessoa
im "Buch der Unruhe" in einer großen Prophezeiung schreibt,
eine äußerste „Schärfung unserer inneren
Empfindungen“, die in uns „Präzisionsinstrumente
zum selbstanalytischen Gebrauch“ schafft.5
5
Fernando PESSOA: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters
Bernardo Soares. Fischer: Frankfurt a.M 1987, S. 192-194 –
Fragment 151.
In
meinen Arbeiten lassen sich mehrere Wasserschichten unterscheiden:
Die oberen Schichten, direkt unter der Wasseroberfläche,
blau, hell und lichtdurchflutet. Darauf folgen – wenn
wir weiter in die See hinabtauchen – die mittleren,
meist grünen Schichten, in denen die Gegenstände
bzw. Empfindungen und Gedanken im diffusen Licht eben erst
erkennbar werden. Und schließlich – wenn wir noch
weiter hinuntersinken – die dunklen Schichten, der Grund
des Meeres mit nur noch wenigen Lichtreflexen, nicht oder
nur schwer zu ergründen.
Der
Fisch in der See als Bote der Seele
In
dieser ständig bewegten See tauchen Bilder auf. Etwas,
das nicht sichtbar in den halbdunklen und dunklen Schichten
der Seele verborgen war, steigt in die helleren Schichten
auf und wird sichtbar. Das Bild dieser seelischen Bewegung
ist der Fisch. Er symbolisiert Empfindungen und Gedanken,
die aus den Tiefen des unbewußten Wassers auftauchen
und wahrnehmbar werden oder dort im diffusen Licht mehr oder
weniger schemenhaft zu erkennen sind. Die Lebendigkeit des
Fisches wird dabei zum Zeichen der Lebendigkeit unserer Seele.
Es macht deutlich, daß die vielfältigen Äußerungen
des seelischen Lebens nicht selbstbestimmbar und selbstwählbar,
sondern uns unmittelbar gegeben sind. Das, was in der Seele
auftaucht, entzieht sich unserem Wollen, um dann zum Gegenstand
unseres im besten Fall lebendigen, aufmerksamen, kultivierten
und zupackenden seeli-schen Selbstbezuges zu werden. Auch
dazu ist der schwer zu greifende Fischkörper analog:
Wer je im flachen, trüben Wasser Fische mit den bloßen
Händen gefangen hat, kennt die lebendigen und gespannten
Sinne und das beherzte Zugreifen. Zu dieser Unverfügbarkeit
des seelischen Lebens gehört auch, daß der Fisch
wie alle Symbole – und wie überhaupt alle Gegenstände
des seelischen Lebens – nicht eindeutig in seiner Bedeutung
ist: Er taucht auf, aber was hat das zu bedeuten? "Der Gotteslachs"
öffnet den Mund und spricht, doch was sagt er? In Michael
Endes Traumsequenz sehen viele einen Eisläufer am Himmel
seine Bahnen ziehen und Zeichen in die gefrorene Himmelsfläche
kratzen. Sie gehen heim, weil sie die Botschaft nicht entziffern
können.6 Der Fisch spricht
zu dem, der ihn hört.
6
Michael ENDE: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München
1991, S. 101.
Als
Bewußtes, das aus dem Unbewußten auftaucht, wurde
der Fisch auch zu einem der ersten Bilder des noch jungen
Christentums. Er ist das Bild für Christus, in dem der
bis dato verborgene und nur geahnte göttliche Urgrund
der Welt sich nun zu erkennen gibt. Der Fisch ist das Bild
der göttlichen Selbstoffenbarung. Sein Bild ist im Christentum
seit der Mitte des 2. Jahrhunderts belegt, z.B. zeigt die
Grabstele der Licinia den Fisch neben Anker und Siegeskranz.
Es ist damit wesentlich älter als das Kreuzzeichen. Beim
Kirchenvater Tertullian findet sich das erste literarische
Zeugnis dieser Christussymbolik. Er schreibt zwischen 200
und 206 über die Taufe: „Aber wir Fischlein werden
wie der Fisch, unser Jesus Christus, im Wasser geboren und
werden nicht anders als dadurch, daß wir im Wasser verbleiben,
gerettet.“7 Christus
wird also um 200 ganz selbstverständlich als der Fisch
bezeichnet. Gleichzeitig werden die Getauften als Fischlein
angeredet.
7
De bap. 3,1
"Der
große Wels – oder: Der Traum des Bonifatius" in
der Predella des Wandelaltars zeigt einen Christusfisch. Ein
Wels schwebt über einem dunklen schwarzgrünen Wasser.
Sichtbar wird er im hellen weißgelben Oberflä-chenwasser.
Er befindet sich unmittelbar unter der Oberfläche, durch
die das Licht einfällt. Markant ist die Bewegung von
unten nach oben. Der Rücken biegt sich durch und sein
Kopf bewegt sich hin zur Wasseroberfläche: Er ist kurz
davor, diese Oberfläche zu durchbrechen. Es ist ein kapitaler
Fisch, kraftvoll und offensiv, etwas, das nicht einfach zur
Seite geschoben werden kann. Große Frauen und Männer
haben große Ideen, sie träumen von großen
Fischen. Bonifatius hatte eine Vision: die Missionierung und
Christianisierung der germanischen Stämme.
In meinen Arbeiten ist aber nicht allein Christus, der große
Fisch, zu sehen, sondern auch wir Fischlein (wenn auch die
Fischlein und der Fisch nicht immer eindeutig voneinander
zu unterscheiden sind, sollen wir Christen doch Christus ähnlich
werden und die Fischlein zu großen Fischen heranwachsen).
Fischlein werden in dem Zyklus "Fische aus heimischen Gewässern"
vor Augen geführt, z.B. "Aalfromm I" und "Groppenfromm –
Das Liegen in den Bachbetten". In "Welsfromm I" schwimmt ein
Wels in den dunklen, unteren Schichten des Wassers. Er ist
hinabgetaucht zu den Urgründen der Welt. Er erkundet
die Abgründe. Ihm begegnet Geheimnisvolles. Diese Kunde
bringt er beim Auftauchen in den helleren Schichten der Seele
zum Bewußtsein. Gerade das Geheimnisvolle, das sich
meist dem schnellen Verstehen entzieht und nicht jedermann
jederzeit zugänglich ist, wurde in den protestantischen
Kirchen das Opfer einer allzeit verfügbaren Allgemeinverständlichkeit
auf geringem Niveau und des Vorschnellen. "Welsfromm I" ist
ein Gegenbild des Vorschnellen und Seichten, es stärkt
das Geheimnisvolle, das Wissen um den Urgrund und das Abgründige.
Indem sie so Vergessenes und Verdrängtes sichtbar machen,
haben diese Fischbilder therapeutische Wirkung und bilden
die Seele. Seelsorgerlich stärken sie Empfindungen und
Charaktere, die in den Kirchen vernachlässigt, klein
gehalten oder gar als unchristlich diffamiert werden: "Der
große Wels" das Kraftvolle und das Streitbare, "Der Gotteslachs"
das Erhabene und das Schöne, das Fischlein in "Groppenfromm"
das Ruhige und das Listige. Es sind Bilder zur Hebung der
Fischfrömmigkeit.
Der Mensch im Wasser
In
der See und in meinen Seelenbildern wird man aber nicht nur
der Fische und anderen typischen Wasserbe-wohner gewahr, sondern
auch des Menschen. „Ich sank hinunter zu der Berge Gründen“,
betet der Prophet Jona im Bauch des Fisches. Aus diesem Psalmwort
in Jon 27 entstand im Jahr 2001 das Bild des Menschen im Wasser.
Dieses Bild war für mich zuerst einmal das Bild des Menschen,
der all die Fische und anderen Wasserbewohner sieht, wenn
er in der See hinuntersinkt. Dann wurde immer deutlicher,
daß das Bild des im Meer hinuntersinkenden Propheten
wie der Fisch eines der elementaren Seelenbilder ist. Es ist
eben nicht nur das Bild eines Propheten, der ins Meer geworfen
wurde – eine Auslegungsregel im Neuen Testament lautet:
Was im Alten Testament geschrieben ist, ist um unsertwillen
geschrieben8 –, sondern
es ist das Bild von uns Menschen in unserem inneren Ozean.
Es ist das Bild des Menschen in seiner Seele. Wenn also der
sinkende Prophet, Jona, in die See schaut, dann nimmt er nichts
Äußerliches wahr. Wenn Jona in die See schaut,
dann schaut er in die Seele. Es ist das Bild für die
innere, die seelische Wahrnehmung. Die Seeschau ist die Seelenschau.
Und damit ist dieses Bild nicht nur das Bild eines bestimmten
Menschen im Wasser, es ist auch nicht nur das Bild des Künstlers
und seiner künstlerischen Arbeit – wenn auch der
Künstler insbesondere ein Arbeiter in der See ist –,
sondern es ist das Bild des Menschen schlechthin. Mensch sein
ist Mensch-sein-im-Wasser. Menschliches Leben ist Leben in
der See, ist seelisches Leben.
8
1. Kor 910, 1011; Röm 154
"Der
sinkende Prophet" sinkt in aufrechter Haltung langsam in die
See hinunter. Sein Blick geht zwar nach oben, aber es ist
kein Anzeichen von Widerstand zu erkennen. Er ist offen und
aufmerksam. Diese Offenheit drückt sich besonders in
der linken Hand aus, die merkwürdig zum Betrachter hin
geöffnet ist. Diese offene Hand ist wie ein gespanntes
Sinnesorgan für die Seele. Eine Art Ohr, ein Auge, eine
Haut für die Seele, mit der man empfindet, wahrnimmt,
erkennt – sorgfältig, aber nicht wehleidig. Und
weil der Prophet, weil wir auf die-sem Bild aufmerksam für
unsere Seele sind, ist es ein Idealbild. Auch das Bild Jona
wird ins Wasser geworfen. Der Künstler wird berufen zur
Arbeit in der See ist ein Idealbild: Jona wurde gerade ins
Wasser geworfen und ist in sein Element eingetaucht. Der Körper
gibt sich den Kräften des Wurfes und des ihn umströmenden
Wassers hin. Und die Luft entströmt aus seinem Mund.
Das Ausatmen zeigt an, daß hier der Widerstand gegen
die See und das Leben in der See aufgegeben ist. Das Ausströmen
ist der Akt der Einwilligung in das seelische Leben.
Alle, die in der See arbeiten, wissen, es gibt Widerstände,
in der See zu arbeiten. Widerstände, in die See einzutauchen
und die Bilder, die dort auftauchen, wahrzunehmen. Der Künstler
klettert auf Bäumen und will nicht schwimmen ist eine
Zeichnung aus der Reihe der Künstlerzeichnungen, die
die gängigen künstlerischen Produkte zur Kunsttheorie
und Ästhetik mit meist vulgärskeptizistischem Hintergrund
auch dadurch konterkarieren, daß hier dem Betrachter
Kunsttheoreme in einer genauso unmittelbar lesbaren wie offensichtlich
hintergründigen Anschauung dargeboten werden: Ein nackter
Mann rutscht recht unbeholfen, seine Arme und Beine finden
nur notdürftigen Halt, kopfüber auf einem Baumstamm
herum. Unter ihm ist ein Wasser zu erkennen. Offenbar hat
sich hier jemand verstiegen. Oben auf dem Baum fühlt
er sich erkennbar nicht wohl, er will aber auch nicht in sein
Element eintauchen: das Wasser. Diese Zeichnung versinnbildlicht
den Widerstand der Künstler gegen die See. Zwar ist dieser
Widerstand ein Kennzeichen des menschlichen Lebens überhaupt,
und die Wahrnehmung der Seele geschieht beständig in
der Spannung von Widerstand und Einwilligung. Die Widerstände
gegen die See im künstlerischen Beruf sind aber von besonderer
Bedeutung, denn der Künstler ist in besonderer Weise
ein Seearbeiter: er sucht in der Seele nach Seelenbildern.
Meine Malerei ist die Malerei der Seele.
In der See gibt sich aber dem Aufmerksamen nicht nur sein
Fühlen und Denken zu erkennen, sondern auch seine sinnliche
Wahrnehmung. Allein im Inneren gibt sich auch das Äußere
zu erkennen. Denn die Seele ist zwar ein Innen und doch umgibt
sie all unsere Wahrnehmungen des Äußerlichen wie
ein Außen. Außerhalb seiner selbst kann der Mensch
nichts wahrnehmen. Die Mitmenschen, die anderen Mitkreaturen
und die unbelebte Welt und schließlich auch Gott können
nur seelisch wahrgenommen werden. Alles Wahrgenommene wird
in dieser Seelenschau eigentümlich (nicht beliebig oder
gar verfügbar) eingefärbt. Das Bild des Menschen
in der See als Bild unserer inneren Anschauung, in der sich
uns nicht nur unser Inneres, sondern auch das Äußere
als Inneres erschließt und zur Erfahrung bringt, ist
die anthropologische Grundlage für die systematische
Entfaltung einer umfassenden Kulturtheorie, einschließlich
der Fundierung einer Theorie aller Wissenschaften.
submarin – der Mensch im Wasser
als Bild des Lebens durch den Tod hindurch
Mit
Jona sinken wir noch weiter in die See hinunter. Bis zu den
Gründen der Berge, ins Dunkle. Der Wandelaltar submarin
besteht aus sechs Tafelbildern. Wird der Altar geöffnet,
so ist auf der Mitteltafel ein visionierter Meeresgrund zu
sehen, auf dem vereinzelt Lichtreflexe aufscheinen. Dort liegen
zwei Tote, dahingestreckt, in leichter Aufsicht. Auf der linken
Seite der uns vertraute Jona. Er ist am Ende seines Sinkens
angekommen. Wenn hier nun der Prophet liegt, dann ist natürlich
auch hier nicht nur er allein gemeint. Wenn hier Jona im Wasser
stirbt, ist nicht nur sein Wassertod gemeint, sondern unser
Tod, zeitlich voraus, doch unvermeidbar auf unserem Weg liegend.
„Da liegt er nun, der Mensch.“9
9
Kirsten HUXEL am 18. März 2007 in ihrem Einführungsvortrag
in die Ausstellung submarin von Tim Haberkorn in Tübingen.
Die
beiden Seitenflügel führen die Todesthematik fort.
Der linke Flügel zeigt Die Sintflut, der vierzigste Tag.
Eine Welle, die ins nicht Sichtbare, ins Nurdunkle hinabstürzt
und uns gleichsam mit in die Tiefe hinunterreißt. Auf
dem rechten Flügel ist ein Brunnen der Tiefe zu sehen.
Nach der Sintflutgeschichte öffneten sich für das
Chaoswasser, das alles Lebendige verschlingt, nicht nur die
Fenster des Himmels, sondern auch die Brunnen der Tiefe. Im
Titel wird die Sintfluterzählung mit der Jonageschichte
verknüpft: Jona schaut einen Brunnen der Tiefe. Das Wasser,
dieser uns so faszinierende und eigentümliche Stoff,
ist auch von tödlicher Fremdartigkeit, denn wir können
im Wasser nicht atmen und daher nur für eine begrenzte
Zeit darin eintauchen. So ist das Wasser nicht nur das Bild
unserer Seele, sondern auch das Zeichen unseres Todes. Auf
der Mitteltafel liegt neben Jona eine weitere Person. Scheinbar
eine Wiederholung. Doch wenn wir genau hinsehen, sehen wir
noch etwas anderes. Die rechte Person hält mit ihrer
rechten Hand die Hand der linken. Und wenn man das Bild genau
liest, sieht man an der Brust dieser Person und an ihrer rechten
Hand die Wundmale Christi. Rechts liegt der Gekreuzigte, der
uns gleich gewordene, der dem Toten, uns, die Hand im Tod
hält. Im Tod hält mir mein Herr die Hand, so der
Titel der Mitteltafel. Unabhängig davon, wie man nun
zum Christentum und zur christlichen Soteriologie stehen mag,
besteht darüber Konsens, daß die Rettung aus dem
Tode im Christentum nicht von oben geschieht, sondern auf
„Augenhöhe“10:
Im Tod ist Gott bei uns auf Augenhöhe, um uns durch den
Tod hindurch zum ewigen Leben zu führen. Die dunkle Seite
von submarin ist eben kein Nurdunkel und auch kein Memento
mori. Nein, hier wird nicht mit dem Tod gedroht, sondern allenfalls
mit dem Leben. Denn hier wird dem Leben, nicht dem Tod geglaubt.
10
Helmut ASSMANN, Gespräch mit den Bildern des Wandelaltars
submarin. In: Tim Haberkorn, In uns ist ein großes Meer.
Der Mensch in der See, S. 42.
Schon
bei "Der sinkende Prophet" aus dem Jahr 2003 hatte ich den Einfall,
daß dessen so merkwürdig geöffnete linke Hand
ergriffen werden wollte und sollte. Und zwar von Gott selbst.
Es gibt aus dem gleichen Jahr auch eine Zeichnung mit der
haltenden Hand unter dem Titel „Taufaltar“. Ich
habe diesen Entwurf bei der ein Jahr später entstandenen
Arbeit Ich liege an der Berge Gründen, in der Jona tot
auf dem Meeresgrund liegt, nicht verwirklicht. Erst 2006 wurde
diese Idee dann in der Mitteltafel des Altars ins Bild gesetzt.
Dieser Werkstattbericht zeigt nicht nur, daß wichtige
Bilder reifen müssen, sondern vielmehr, daß die
Widerstände gegen das Leben erstaunlicherweise meist
größer und massiver sind als die Widerstände
gegen den Tod. Viele Menschen haben in ihrer Lebensgeschichte
oder Familiengeschichte Zerstörung und Tod so erfahren,
daß sie nun den Erfahrungen des Lebens keinen Glauben
mehr schenken können. Die Seele ist der Schauplatz des
Ringens zwischen den Erfahrungen des Todes und des Lebens.
Und das ist das Kennzeichen der Sünde: Daß man
dem Tod mehr glaubt als dem Leben. Und das ist das Kennzeichen
des Heils: Daß man dem Leben glaubt und nicht dem Tod.
"submarin" ist ein Taufaltar. Auch in der Taufe wird der Täufling
ganz in das fremdartige, todbringende Wasser eingetaucht.
Dieses völlige Untertauchen geschieht bei der meist üblichen
Säuglingstaufe nur noch symbolisch durch das Besprengen
mit Wasser. In der frühen Christenheit wurden aber in
der Regel die Erwachsenen im Taufgeschehen vollständig
untergetaucht. Paulus schreibt dazu in Röm 6: „Oder
wißt ihr nicht, daß alle, die wir auf Christus
Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft. So sind
wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit,
wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit
des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn
wir mit ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind in seinem
Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.“
"Im Tod hält mir mein Herr die Hand" ist das Bild zur paulinischen
Tauftheologie: Mit Christus sterben und mit Christus auferstehen.
Die Auferstehung ist in der Hand Jesu und ihrem Tun, das aller
Erfahrung des Todes widerspricht, schon angezeigt.
In submarin wird entsprechend dem Psalm, den der Prophet im
Bauch des Fisches singt, die Jonageschichte nicht etwa so
gedeutet, daß hier nur einer ins Wasser gefallen und
fast ertrunken wäre, wenn Gott ihn nicht wun-derbar errettet
hätte. Denn Jona betet so: „Ich sank hinunter zu
der Berge Gründen und der Erde Riegel schlossen sich
hinter mir ewiglich.“ Wenn er hier davon spricht, daß
er bis zu den Füßen der Berge, die unzugänglich
für die Lebenden tief im Meer verborgen sind, vorgestoßen
ist und diese unzugängliche Grenze der geschaffenen Welt
sogar überschritten hat, dann beschreibt er seinen eigenen
Tod. Zum Leben wird er durch den Tod hindurch errettet. Im
Zentrum der Jonageschichte geht es um Tod und Auferstehung.
Unklar bleibt, wie diese Auferstehung geschieht. Das kann
uns die alttestamentliche Schrift noch nicht sagen. Aber es
wird schon etwas schemenhaft im Nebel sichtbar. Es ist da
etwas verschwommen in den halbdunkeln Wasserschichten zu erkennen.
Die Prophetengeschichte gibt uns ein Zeichen: der große
Fisch. Der Fisch, der Jona rettet, ist das Bild für Christus
selbst. So ist auf der Außenseite des linken Flügels
das Bild Typologie – "Jona schaut Christus als Walfisch"
zu sehen.
Eines der Vorbilder zu diesem Außenflügel ist "Prophet
und Fisch". Bei genauerem Hinsehen ist auf diesem Bild noch
zu erahnen, daß es sich bei dem Wal ursprünglich
um einen Wels handelte. Es hat sich aber nicht nur in diesen
Bildern der Wal aus dem Wels entwickelt, sondern die recht
ähnlichen Begriffe „Wal“ und „Wels“
sind merkwürdigerweise auch sprachgeschichtlich miteinander
verwandt,11 was besonders
an der im Donaugebiet für den Wels gebräuchlichen
Bezeichnung „Waller“ deutlich wird.
11
KLUGE, 24. Aufl., S. 969 und 982f.
Die
ursprüngliche Bedeutung der Namen bleibt allerdings wie
bei vielen anderen Fischen im Dunklen. Wahrscheinlich ist
eine phänomenologisch einleuchtende Verwandtschaft mit
„Welle“.
Das Wasser als Symbol des himmlischen Seins
– Christus im gläsernen Meer
Die
rechte Außentafel des Taufaltars zeigt "Christus im gläsernen
Meer". Das gläserne Meer ist nach Offb 46 eines der Kennzeichen
der von Gott geschaffenen neuen Welt. Im alten Orient war
das Meer, in das man eben zum größten Teil nicht
hineinsehen kann, vor allem ein Ort der Bedrohung und der
Gefahr, das von so ungeheuerlichen Wesen wie etwa dem Leviathan
und dem Behemot bewohnt wurde. Das gläserne und daher
durchsichtige Meer in der Vision von Johannes ist Teil der
himmlischen Seligkeit. Nicht nur hat das Dunkle der Helligkeit
und der Klarheit Platz gemacht, sondern auch alles Bedrohliche
ist daraus verschwunden. In diesem geläuterten Wasser
eilt der Auferstandene geradewegs auf uns zu. Das um die Scham
gewickelte Leichentuch bauscht sich im Wasser durch die Vorwärtsbewegung
auf und seine Haare wehen im Wasser. Seine rechte Hand streckt
er uns entgegen und segnet uns gleichzeitig damit. Als Überwinder
des Todes und inspiriert von der tänzerischen Musik
Jean-Baptiste Lullys, Georg Friedrich Händels und Johann
Sebastian Bachs ist er als Schreitender und Laufender dargestellt.
Jeder Schritt ist ein Zeichen gegen den Tod. Und das Laufen
des Gekreuzigten ist ganz im Einklang mit seinem Gesichtsausdruck:
Das Laufen gibt den Tod, der eben Bewegungslosigkeit ist,
dem Lachen und der Lächerlichkeit preis. Das ist das
Osterlachen. Das Lachen über den Tod – und das
Böse.
Christus läuft aber nicht nur wunderbarerweise in der
See, sondern er atmet auch darin. Das Wasser ist nun ganz
zum Lebensraum des Menschen geworden und gibt ihm einen leichten
Leib, erlöst von seiner Erdenschwere. Dieser Christus
ist wie das robbenartige Wesen in Robbenfromm. Das selige
Harren der Kreatur, das in Ergänzung zu den Ausführungen
von Paulus in Röm 8,19 in aller Seelenruhe auf das Offenbarwerden
der Kinder Gottes im Himmelreich wartet, ein Fingerzeig auf
die himmlische Leichtigkeit unseres Leibes.
Gegen einen breiten Strom der Tradition ist Christus im gläsernen
Meer nicht mit einer asketischen, zurück-haltenden Körperlichkeit,
um nicht zu sagen „mager“, dargestellt, sondern
er ist von krachender Körperlichkeit.12
12Helmut
ASSMANN, Gespräch mit den Bildern des Wandelaltars submarin.
In: Tim Haberkorn, In uns ist ein großes Meer. Der Mensch
in der See, S. 44.
Er
ist untersetzt, er hat Bauch, die Oberschenkel sind stämmig,
die Brust ist nicht zu übersehen. Es ist eine Leib-lichkeit
Christi, die sich nicht an den populären und virulenten
Vorstellungen des Body-Mass-Index orientiert. Sondern es ist
das Bild eines nicht ganz ungewöhnlichen Mannes um die
vierzig. Mit leiblicher, an der körperlichen Wirklichkeit
abgelesener und nicht am asketischen Ideal orientierter Drastik
stellt sich hier die Auferste-hung Christi und unsere eigene
Auferstehung von den Toten vor die Augen. Denn nicht von unserer
Leiblichkeit werden wir erlöst, sondern auch unser Leib
wird erlöst. Damit soll nun nicht etwa der Leib über
die Seele gestellt werden. Noch soll der Leib im Diesseits
gar als Hort des Heils ausgewiesen werden. Er ist es genausowenig
wie die Seele. Nein, beides sind die fundamentalen Bedingungen
unseres Menschseins. |
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